Studie : Aftersales-Geschäft: Höherer Reifenverbrauch kompensiert Umsatzverluste
Während des coronabedingten Lockdowns im Frühjahr 2020 ist die Fahrleistung in Westeuropa um zehn bis 15 Prozent gesunken. Dies schmälert kurzfristig die Umsätze, die mit Kfz-Reparaturen, Wartung und Ersatzteilen erzielt werden. Doch weitaus bedrohlicher für das bislang auch in wirtschaftlich turbulenten Zeiten so stabile und lukrative After-Sales-Geschäft der Automobilbranche ist, dass die Serviceumsätze pro Pkw in den kommenden Jahren deutlich und nachhaltig zurückgehen werden. Bis 2035 belaufen sich die jährlichen Einbußen auf 5,5 Prozent. In ihrer Studie "After-Sales: Der stille Fluch der Fahrassistenzsysteme" zeigt die internationale Unternehmensberatung Bain & Company die Ursachen für das nachlassende Reparatur- und Ersatzteilgeschäft auf und erläutert, wie Marktteilnehmer Umsatzrückgänge abfedern können.
Mehr Sicherheit, weniger After-Sales-Geschäft
Die Langfristprognose von Bain widerlegt die verbreitete Auffassung, nach der schon in den nächsten Jahren vor allem die steigende Zahl von Elektroautos mit weniger verbauten Komponenten das Aftersales-Geschäft unter Druck setzen wird. 2035 führt dies in den fünf großen europäischen Märkten Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien zwar zu einem Umsatzrückgang von knapp 2 Prozent. Doch einen nahezu doppelt so hohen Effekt mit minus 3,7 Prozent hat in diesem Zeitraum der Faktor Fahrassistenzsysteme - und damit die zunehmende Automatisierung der Pkw.
"Heute gängige Systeme senken die Unfallwahrscheinlichkeit bereits um bis zu 30 Prozent und die Unfallschwere um bis zu 10 Prozent", erklärt Bain-Partner und Studienautor Dr. Eric Zayer. "Aus Gründen der Sicherheit ist dies sehr zu begrüßen. Gleichzeitig verringert sich der Reparatur- und Ersatzteilbedarf erheblich, und wir stehen erst am Anfang des automatisierten Fahrens." Bain-Prognosen zufolge werden 2035 knapp zwei Drittel der weltweit genutzten Fahrzeuge über sogenannte Level-1- und Level-2-Systeme verfügen, die ein assistiertes oder teilautomatisiertes Fahren ermöglichen. Hinzu kommen dann voraussichtlich weitere 10 bis 15 Prozent Pkw, die mit Level-3-Systemen ausgestattet sind und bestimmte Fahraufgaben beispielsweise auf der Autobahn vollständig übernehmen können.
Höherer Reifenverbrauch kompensiert Umsatzverluste
Der negative Effekt der Elektrofahrzeuge auf die After-Sales-Umsätze wäre in den kommenden 15 Jahren deutlich ausgeprägter, würde er nicht durch einen steigenden Reifenverbrauch teilweise kompensiert werden. Dieser resultiert aus den Spezifika batteriegetriebener Fahrzeuge. Größere Reifen, eine höhere Traktion bei Beschleunigung und Rekuperation sowie tendenziell mehr Gewicht sorgen dafür, dass bei E-Autos häufiger die Reifen gewechselt werden müssen. Dennoch werden die After-Sales-Umsätze je batteriegetriebenem Fahrzeug bis 2035 um durchschnittlich 16 Prozent zurückgehen.
Laut Bain-Prognose federt ein insgesamt steigender Fahrzeugbestand die Umsatzeinbußen durch Elektrofahrzeuge und Fahrassistenzsysteme bis 2035 ab. Die gesamten After-Sales-Umsätze in den fünf großen europäischen Märkten Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien legen bis 2030 noch leicht zu, sinken dann aber wieder auf das Niveau von 2020 (Abbildung). In den Jahren nach 2035 dürfte sich dieser Rückgang fortsetzen, denn die umsatzmindernden Effekte der wachsenden Flotte von Elektrofahrzeugen werden sich immer stärker bemerkbar machen.
Deutscher Markt schrumpft eher
In Deutschland nehmen die Umsätze bereits in der laufenden Dekade ab und verringern sich bis 2035 um 3,1 Prozent. Das liegt an dem hierzulande stagnierenden Fahrzeugbestand sowie dem größeren Anteil höherwertiger Pkw mit Fahrassistenzsystemen. Zwar hat die Vorliebe der Deutschen für besser ausgestattete Fahrzeuge zur Folge, dass die Werkstätten entgangene Umsätze zumindest teilweise durch höhere Preise ausgleichen können. Doch je mehr Fahrassistenzsysteme Schäden vermeiden oder abmildern, desto stärker bekommen dies die Servicebetriebe zu spüren.
Die Zunahme des automatisierten Fahrens und der Elektrifizierung sowie die daraus resultierenden Auswirkungen treffen die Marktteilnehmer in den fünf Ländern mit unterschiedlicher Wucht. Besonders hohe Einbußen erleiden die Autohersteller sowie die markengebundenen Servicebetriebe. "Servicebetriebe, bei denen die Ertragslage schon heute angespannt ist, können in eine existenzbedrohende Schieflage geraten", stellt Bain-Partner und Studien-Co-Autor Dr. Marcus Hoffmann fest. "Umfassende strukturelle Veränderungen sind notwendig, um das Geschäft zu sichern." Auch bei vielen anderen Marktteilnehmern bestehe akuter Handlungsbedarf.
Systematisches Handeln ist das Gebot der Stunde
Die Bain-Studie zeigt den Unternehmen Handlungsoptionen auf, wie sie ihre Marktposition verteidigen können. Autohersteller brauchen intelligente Lösungen entlang der gesamten Kundenreise. Durch langfristige Service- und Wartungsverträge können sie die Loyalität ihrer Kunden stärken und diese an sich binden. Weitere Ertragschancen ergeben sich durch die Nutzung der Daten von Fahrassistenzsystemen etwa bei Versicherungsprodukten, aber auch durch zusätzliche Dienstleistungen wie beispielsweise auf Echtdaten basierende Wartungsintervalle für die zunehmend vernetzten Fahrzeuge.
Die Servicebetriebe wiederum werden ihre Werkstattnetze an die Entwicklungen anpassen müssen. Das Schrumpfen der klassischen Wartungs- und Reparaturumsätze können sie zumindest teilweise auffangen, indem sie ihr Leistungsspektrum verändern und erweitern. Erhebliche Ertragschancen bietet beispielsweise das lange vernachlässigte Reifengeschäft. Branchenkenner Zayer ist überzeugt: "Die Servicebetriebe müssen jetzt die Loyalität ihrer Kunden stärken sowie in neue Dienstleistungen und Angebote investieren, um die Rückgänge im Kerngeschäft zu kompensieren."